Interviews

Übersetzer Jürgen Neubauer zur Arbeit an Hein de Haas' »Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt«

Im Oktober erscheint bei S. Fischer »Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt« von Hein de Haas. Jürgen Neubauer hat das Buch ins Deutsche übertragen. Im Gespräch hat er uns von seiner Arbeit an der Übersetzung erzählt.

 

Was hat Ihnen am meisten Freude bereitet beim Übersetzen von Hein de Haas' neuem Buch Migration?

Ich habe mich sehr gefreut, ein Buch zu übersetzen, das Migration nicht nur aus Sicht der Ziel- sondern auch der Herkunftsländer beschreibt. Ich lebe seit fast zwanzig Jahren in Mexiko, das immer noch als Auswanderungsland gilt. Unter anderem habe ich dort in einem Dorf namens Malinalco gelebt, aus dem viele Menschen auf der Suche nach Arbeit in die Stadt oder ins Ausland gehen. Aus den meisten Familien ist irgendjemand „nach drüben“, also in die Vereinigten Staaten, gegangen. Die Kultur wird stark von der Migration geprägt – von denen, die gehen, von denen, die bleiben, von denen, die zurückkommen. Diese Seite findet nur selten Beachtung, denn in der europäischen Debatte geht es fast ausschließlich um die Zielländer. Aber wie Hein de Haas schreibt, ist das eben nur die eine Seite der Geschichte, und man kann die Migration nur verstehen und mit ihr umgehen, wenn man alle Seiten kennt.

 

Was haben Sie beim Übersetzen gelernt?

Auch wenn Hein de Haas Mexiko nur am Rande erwähnt, hat er mein Verständnis der Situation hierzulande sehr bereichert. So ist mir zum Beispiel klar geworden, dass Mexiko aktuell den für viele Schwellenländer typischen Schritt vom Auswanderungs- zum Nettoeinwanderungsland macht. Ich kann es jetzt besser einordnen, wenn auf der einen Seite Bekannte aus Malinalco viel Geld bezahlen, um in die Vereinigten Staaten zu kommen, während mir auf der anderen Seite ein verzweifelter Architekt aus der boomenden Industrieregion um Querétaro erzählt, dass er händeringend Maurer sucht. Die Ausführungen von Hein de Haas haben mir geholfen, diese vielschichtige Umbruchsituation besser zu verstehen und eine Ahnung davon zu bekommen, wie sich das Land und die gesamte Migrationssituation auf dem Kontinent in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weiterentwickeln könnten. Damit kann ich ganz nebenbei meine mexikanischen Freunde verblüffen, die oft noch gar nicht bemerkt haben, dass ihr Land längst nicht mehr das klassische Auswanderungsland ist, das es einmal war. 

 

Haben Sie eine Lieblingspassage?

Besonders beeindruckt haben mich die Schilderungen des Lebens im Süden von Marokko, in den Oasen am Fuß des Atlasgebirges. Hein de Haas hat lange in der Gegend gelebt und geforscht, und in seinen Beschreibungen wird die komplexe Wirklichkeit der Migration in den Herkunftsländern mit Händen greifbar. Als Übersetzer liebe ich das Konkrete, und davon bietet der Autor zum Glück eine Menge. Das ist auch eine der Stärken des Buchs, denn am Fels des Konkreten zerschellt jeder Mythos.

 

Warum sollte man dieses Buch unbedingt lesen?

Hein de Haas bietet eine Sprache, um differenziert über das kontroverse Thema Migration zu sprechen, ohne die ermüdenden Floskeln der Gegner und Befürworter wiederzukäuen – also ohne die Migrationsmythen, wie Hein de Haas es nennt. Wie er selbst im Vorwort betont, geht es ihm nicht darum, im Pro und Kontra der Debatte Stellung zu beziehen, sondern Fakten zu vermitteln und ein „radikal neues Verständnis der Migration“ zu ermöglichen, „das nicht auf politischen Interessen oder ideologischen Vorstellungen basiert, sondern das die Migration als das versteht, was sie ist“.

 

Was würden Sie Lesern empfehlen, die dieses Buch mögen?

Ich möchte kein weiteres Sachbuch empfehlen, sondern Belletristik. Zum Beispiel die vier Erzählungen, die W. G. Sebald 1992 unter dem Titel Die Ausgewanderten veröffentlicht hat; Sebald war selbst Migrant, er lebte und lehrte in Norwich, und die Protagonisten seiner Geschichten sind nach England geflüchtete deutsche Juden. Überhaupt finde ich die deutsche Exilliteratur faszinierend, vor allem wenn sie sich explizit mit der Flucht oder der neuen Heimat auseinandersetzt. In Mexiko gab es während des Zweiten Weltkriegs eine lebendige literarische Exilgemeinde mit einem eigenen Verlag – die bekanntesten Vertreter sind Anna Seghers mit ihrem Roman Transit und Egon Erwin Kisch mit seinen Entdeckungen in Mexiko. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen – Belletristik macht die menschliche Komplexität der Migration erlebbar und lässt spüren, dass sie uns sehr viel näher sein könnte, als wir glauben.

 

 

Jürgen Neubauer studierte Anglistik und Germanistik in Marburg und Richmond, er arbeitete als Buchhändler in London, Dozent in Pennsylvania und Sachbuchlektor in Frankfurt. Er lebt als freiberuflicher Literaturübersetzer in Mexiko und ist Autor von In Mexiko und Mexiko: Ein Länderporträt.

Hein de Haas, geboren 1969, forscht seit über drei Jahrzehnten zu Migration und ist einer der bekanntesten Migrationsforscher weltweit. Er ist Professor für Soziologie und Geographie in Amsterdam und Professor für Migration und Entwicklung in Maastricht. Zudem leitet er das International Migration Institute in Oxford. Seine interdisziplinäre Forschung hat ihn ...

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