Unter einem Zuckerhimmel
Ein großformatiger, opulent ausgestatteter Band im Werk von Christoph Ransmayr: Balladen und Gedichte, illustriert von Anselm Kiefer
»In den ersten jener abenteuerlichen, von Rätseln erfüllten Jahre, die manchmal schwärmerisch Kindheit genannt werden, habe ich Erzählungen vor allem als Gesänge gehört.« Die ersten Geschichten im Leben Christoph Ransmayrs waren die Gesänge eines häuslichen Frauenchors, in dem seine Mutter und mit ihr eine Magd alles, was einem Kind erzählt werden sollte, sangen. Diesem Beispiel folgend erzählt Christoph Ransmayr nun in Balladen und Gedichten von abenteuerlichen Reisen nicht nur ins Hochgebirge, in das Blau des Himmels oder an den Meereshorizont, sondern durch die Zeit.
Anselm Kiefer hat Ransmayrs Balladen und Gedichte mit Serien von Aquarellen begleitet, die er ausschließlich für diesen Band geschaffen hat. Die vorliegende opulent ausgestattete Sammlung verschränkt die Sprache Christoph Ransmayrs mit der Kunst Anselm Kiefers. »Unter einem Zuckerhimmel« erscheint als der zwölfte Band, als Sonderband, in Christoph Ransmayrs Reihe »Spielformen des Erzählens«.
Leseprobe
Von Vogelhochzeiten und Kühltruhen
In den ersten jener abenteuerlichen, von Rätseln erfüllten Jahre, die manchmal schwärmerisch Kindheit genannt werden, habe ich Erzählungen vor allem als Gesänge gehört. Ein kleiner Chor von Frauen, unter ihnen meine Mutter und an Freitagvormittagen auch eine Magd, die gemeinsam mit ihr, nach der Stallarbeit in einem benachbarten Vierkanthof, auf den Knien den rissigen Holzboden unserer Wohnung mit Reisbürste und Kernseife wusch, sang von Vogelhochzeiten, von Königskindern und einem Männlein im Wald, vom guten stillen Mond und der Zahl der Sterne am Himmelszelt. Als ich mit dem tropfenden Alphabet einer Buchstabensuppe, deren Lettern auf dem Tellerrand von meiner Mutter zu Zeilen angeordnet wurden, lesen lernt und dann in Liederbüchern sah, daß die Geschichten des Frauenchors in Strophenform gedruckt waren, wurde ich überzeugt, daß wohl Verse und gesungene Strophen die vollendete Form einer Geschichte sein mußten. Denn in den profanen, vom linken zum rechten Seitenrand laufenden und Buchseiten schraffierenden Zeilen konnten zwar Märchen, Legenden und Sagen überliefert werden, aber ihre mitreißende Dramatik fand ihren Weg offensichtlich erst in Herzen und Köpfe, wenn sich eine menschliche Stimme ihrer annahm und sie als Gesang vortrug.
Der Fallmeister
BestsellerNach den Bestsellern »Atlas eines ängstlichen Mannes« und »Cox oder Der Lauf der Zeit« erzählt Christoph Ransmayr in seinem Roman »Der Fallmeister« virtuos und mit großer Sinnlichkeit von menschlicher Schuld und Vergebung.
Im tosenden Wildwasser stürzt ein Langboot die gefürchteten Kaskaden des Weißen Flusses hinab. Fünf Menschen ertrinken. Der »Der Fallmeister« , ein in den Uferdörfern geachteter Schleusenwärter, hätte dieses Unglück verhindern müssen. Als er ein Jahr nach der Katastrophe verschwindet, beginnt sein Sohn zu zweifeln: War sein jähzorniger, von der Vergangenheit besessener Vater ein Mörder? Die Suche nach der Wahrheit führt den Sohn des Fallmeisters tief zurück in die eigene Vergangenheit: Getrieben von seiner Leidenschaft für die eigene Schwester und der Empörung über das Schicksal seiner aus dem Land gejagten Mutter, folgt er den Spuren seines Vaters. Sein Weg führt ihn durch eine düstere, in Kleinstaaten zerfallene Welt. Größenwahnsinnige Herrscher ziehen immer engere Grenzen und führen Kämpfe um die Ressourcen des Trinkwassers. Bildmächtig und mit großer Intensität erzählt Christoph Ransmayr von einer bedrohten Welt und der menschlichen Hoffnung auf Vergebung.
Leseprobe
Der Große Fall
Mein Vater hat fünf Menschen getötet. Wie die meisten Mörder, die bloß Tastaturen, Hebel oder Kippschalter bedienen, wenn sie für einen maßlosen Augenblick die Herrschaft über Leben und Tod an sichreißen, berührte er dabei kein einziges seiner Opferoder sah ihm auch nur in die Augen, sondern flutete über eine Reihe blanker Stahlwinden eine der Flußschiffahrt dienende Bootsgasse. Der durch die geöffneten Schleusentore freigesetzte Wasserschwall verwandelte diese Gasse, einen schmalen, aus Lärchenbalken gezimmerten Kanal, in einen reißenden Abfluß. Ein darin eben noch driftendes, mit zwölf Menschen besetztes Langboot glitt dadurch nicht wie vorgesehen in ruhiger Fahrt vom Ober- in den Unterlauf des Weißen Flusses, sondern schoß in jäher Beschleunigung zwischen bemoosten Felswänden talwärts. Dort, wo die Bootsgasse wieder in das alte Flußbett einmündete, ließ der Schwall das Langboot wie von einer Riesenfaust getroffen umschlagen und kieloben durch brodelnde Kehrwasserwirbel davon taumeln.
Ich habe dieses Buch betreten wie einen Zauberwald
Denis Scheck