Interview

Gespräch zwischen Christoph Ransmayr und seiner Lektorin zu »Der Fallmeister«

 

Petra Gropp: Die ersten Kapitel zu dem Roman »Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten« sind vor vielen Jahren entstanden. Lieber Christoph Ransmayr, wieso hat Sie diese Geschichte in all der Zeit nicht losgelassen?
 

Christoph Ransmayr: Ich will in meiner erzählerischen Arbeit mit jedem neuen Thema so etwas wie einen unbekannten Planeten ansteuern – und betreten. Wenn ich etwa vor vielen Jahren der Geschichte einer Hocharktis-Expedition aus dem vorletzten Jahrhundert gefolgt bin, habe ich in der nächsten von einem verbannten römischen Dichter erzählt, in er folgenden wiederum von den Verwüstungen einer fiktiven Nachkriegszeit. Der Fallmeister war ursprünglich Teil dieser dritten, »Morbus Kitahara« überschriebenen Nachkriegsgeschichte. Ich habe aber im Lauf der Erzählarbeit das Fallmeisterthema herausgelöst und war später lange unentschlossen, welche Koordinaten ich dieser Geschichte zuordnen sollte, bis ich endlich auf ein Datum und einen Ort in der Zukunft gestoßen bin: Der Fallmeister nun als ein auf die Zukunft gerichtetes Gedankenspiel. Mein langes Zögern hatte allerdings auch mit der Tatsache zu tun, daß mein Vater, als unehelicher Sohn einer unglücklichen Köchin der Enkel eines Fallmeisters war, der mit Steinsalz befrachtete Zillen über ein System von Schleusen über einen Wasserfall nahe meinem Heimatdorf abgesenkt hatte. Ich wollte allerdings weder in diesem noch in anderen Romanen in mein eigenes oder das Leben meines Vaters eintauchen. Ich lese gelegentlich autobiographische Erzählungen mit Interesse, will aber selber keine schreiben. Erst nachdem also biographische Verbindungen aufgelöst oder gekappt waren und der Ort einer erfundenen Handlung in die Zukunft verlegt, habe ich den Versuch begonnen, von einem »Fallmeister« zu erzählen.

 

Petra Gropp: Der Roman berührt viele unterschiedliche Themen: Man kann ihn als Vater-Sohn-Geschichte lesen, als Roman einer Familie. Zugleich entwirft »Der Fallmeister« ein Bild unserer verfinsterten Gegenwart oder Zukunft, es wird von Kämpfen um natürliche Ressourcen erzählt, das Wasser spielt eine zentrale Rolle. In diesem Sinne ist er ein sehr politischer Roman. Es geht um Nostalgie und die Sehnsucht, in eine vermeintlich glorreiche Vergangenheit zurückzukehren. In einem existentiellen Sinne erzählt der Roman von menschlicher Hybris und Schuld. Das Schlussbild zeigt einen Menschen, der alleine vor dem Meer steht und bei allen Verirrungen vielleicht auf Vergebung hofft.
 

Christoph Ransmayr: Ich will nie festlegen, welcher Aspekt eines Romans für mich der wichtigste werden soll. Gewichtungen ändern sich mit jedem Kapitel, jeder Perspektive. Selbst wenn man einem Geschichtenerzähler bloß zuhört, merkt man ja am Wechsel der Tonfälle, an der Lautstärke, an der Sparsamkeit oder des Überreichtums seiner Gesten, in welcher Beschreibung und welchem Detail er gerade aufgeht. Wenn ich ein Programm etablieren wollte, nach dem die einzelnen Bilder, Sätze und Handlungen einer Erzählung einer Hierarchie der Bedeutungen untergeordnet werden sollten, würde ein – möglicherweise kunstvolles - Konstrukt entstehen. Ich habe aber in meiner erzählerischer Arbeit immer auch darauf geachtet, Konstruktionen nur als so etwas wie Wittgensteinsche Leitern zu verwendeten, die abgestoßen werden, wenn man auf ihnen hochgestiegen ist. Das Erzählen ist schließlich ein Prozess, der über alle Pläne und ursprünglichen Absichten hinausreichen sollte.

 

Interview

Gespräch mit Christoph Ransmayr zu seinem Roman »Atlas eines ängstlichen Mannes«

 

Petra Gropp: Nach Ihren großen Romanen »Die letzte Welt«, »Morbus Kitahara« und »Der fliegende Berg« erscheint nun der »Atlas eines ängstlichen Mannes«. Dieses Buch ist kein Roman, sondern eine ganz besondere Gattung, ein »Atlas«, ein erzählter Atlas der Welt. Wie sind Sie zu dieser Form gekommen?
 

Christoph Ransmayr: Diese in siebzig Episoden gegliederte Erzählung hat das einfachste Vorbild: die Haltung eines Menschen, der sich erinnert – an Begebenheiten, Gestalten und Orte seines Lebens und davon in geschlossenen, voneinander unabhängigen und nur durch ein Ich verbundenen Geschichten erzählt. Wie einen kartographischen Atlas kann ein Leser auch den Atlas eines ängstlichen Mannes aufschlagen, wo immer er will, kann mit den letzten Seiten beginnen oder am Anfang – und wird stets inmitten der Welt sein. Am Ende jeder Episode holt der Erzähler Atem, setzt nach kurzen oder längeren Pause mit einem Ich sah von neuem an und versetzt sich selbst und seine Zuhörer oder Leser allein nach den Gesetzen der freien Assoziation an einen anderen, weit entfernten oder allernächsten Ort. Schließlich kann in unserer Erinnerung etwa ein verfallener Bootssteg an einem See im Brandenburgischen durchaus neben einem Pfahlbau am Oberlauf des Yangtsekiang aus dem Wasser ragen.

 

Petra Gropp: Der »Atlas« kartographiert in einem großen Erzählatem nahe und ferne Orte dieser Erde. Sie sind in Ihrem Leben viel gereist, haben viel gesehen und gehört, Geschichten gesammelt, Mythen, Legenden. Können Sie beschreiben, wie sich Erinnerungen und Recherchen, Reales und vielleicht auch Fiktives in dieser Erzählstimme zu Bildern, Szenen, Sätzen formen?
 

Christoph Ransmayr: Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt. Das bloß aufgezeichnete, dokumentierte Geschehen ist oft nicht viel mehr als eine chaotische Faktensammlung, Rohmaterial, das einen Erzähler erst zum Sprechen bringt. Dabei werden manchmal auch ihm selbst erst im Fortgang seiner Geschichte die komplexen Verbindungen bewußt, die seine Materialsammlung zu einem Drama, einer Groteske oder Tragödie werden lassen.

 

Petra Gropp: Gibt es eine Episode, die Ihnen die liebste ist, die lebendigste, einprägsamste, die nächste oder schwierigste vielleicht?
 

Christoph Ransmayr: Im Prozeß des Schreibens erschien und erscheint mir jede einzelne Geschichte oder Episode irgendwann als die liebste, die lebendigste, einprägsamste, die naheliegendste oder als diejenige, die sich niemals erzählen lassen wird.

 

Petra Gropp: Gibt es Begebenheiten, die Sie nicht erzählen? Dinge, die Sie aussparen? Weil sie sich vielleicht den Worten entziehen?
 

Christoph Ransmayr: Der allergrößte Teil der Welt, auch unserer persönlichen, vertrauten Welt, treibt, unerzählt und ohne jemals zur Sprache gebracht worden zu sein, an uns vorüber.

 

Petra Gropp: Gibt es Ort, an die Sie gerne noch reisen möchten, die Sie noch nicht gesehen haben, die Sie aus irgendeinem Grund noch faszinieren?
 

Christoph Ransmayr: Zunächst gibt es keinen Ort, den ich je besucht habe, an den ich nicht gerne noch einmal reisen würde. Schließlich gilt ja nicht nur, daß man nicht zweimal in demselben Fluß baden, sondern auch, daß man an keinen Ort seiner Geschichte, und sei es die eben verlassene Wohnung, wirklich zurückkehren kann. Weil es also ohnedies nur mehr oder weniger unbekannte Orte gibt, die vor uns liegen, überlasse ich die Entscheidung über das nächste Ziel lieber dem Zufall.

 

Petra Gropp: Es geht in diesem »Atlas« nicht nur um die realen Reisen, sondern es sind mythische Reisen, existenzielle Begebenheiten, der Blick wird in die Unendlichkeit des Universums gerichtet und an die Grenzen des irdischen Lebens. Immer geht es auch um das Sterben und Verlieren, um das Sehnen und Aufstreben. Ist dieser »Atlas« für Sie ein solches Buch des Lebens?
 

Christoph Ransmayr: Es gibt wahrscheinlich kein Erzählen, jedenfalls keines, das diesen Namen verdient, in dem es nicht irgendwann um Leben und Tod ginge. Selbst kürzeste Erzählformen wie Anekdote, Witz, Aphorismus oder drei Zeilen auf einer Ansichtskarte spielen mit dem Leben und dem Tod.

 

Petra Gropp: Es ist ein großer Erzählatem, der durch den »Atlas« führt. Die Stimme hebt immer wieder an: »Ich sah …«. Wieso ist dieses Motiv des Sehens dasjenige, das die Episoden verbindet?
 

Christoph Ransmayr: Sehen ist ja nicht bloß eine optische Erfahrung. Wer die Welt wahrnehmen will, wendet seinen Blick immer auch gleichzeitig in sein Inneres und wird dort, was auf seiner Netzhaut erscheint, verwandelt oder zumindest gespiegelt finden, verzerrt oder verklärt, vielleicht auch klarer als irgendwo sonst. Dabei hat es der Erzähler aber nicht, wie der Seher und Prophet, bloß mit der Zukunft zu tun, sondern mit allen Zeiten. In seiner Geschichte erscheinen die Dinge ja eingebettet in den Lauf der Zeit und weisen unter Umständen nach allen Zeit- und Himmelsrichtungen über den Augenblick hinaus.

 

Petra Gropp: Der Erzähler tritt eigentlich nicht in Erscheinung, er ist ein Beobachter, ein Zuhörender. Wieso wird er im Titel ein »ängstlicher Mann« genannt?
 

Christoph Ransmayr: Ängstlichkeit als eine Spielform der Vorsicht kann das Bild der Welt im günstigsten Fall vervollständigen, ist sie sich doch nicht bloß dessen bewußt, was ist, sondern auch dessen, was bloß sein und geschehen könnte. Unser Leben ist ja nur in seinen verfliegendsten, flüchtigsten Teilen einigermaßen gegenwärtig, sondern besteht vor allem aus dem, was war und was werden könnte. Der ängstliche Mann rechnet mit allem, verfällt dabei aber nicht in Schreckensstarre, bleibt, wo er ist oder verschwindet in einem Versteck, sondern geht, wenn auch manchmal unsicher, wenn auch manchmal bange und zweifelnd, seiner Wege.

 

Petra Gropp: Es gibt eine Episode, die davon erzählt, wie sich der Erzähler in eine Höhle flüchtet und dort in den Gesang der Mönche einstimmt und letztlich in den Schlaf fällt. Das Singen, das Erzählen, das Sprechen sind also weit mehr als ein Berichten, als ein Informationsaustausch. Ist es das, was in Ihren Augen das Menschsein ausmacht?
 

Christoph Ransmayr: Wie immer das Menschsein definiert wird – in unserer Geschichte gab es wohl keine größere Erfindung als die, beispielsweise einen Ozean mit seiner scheinbaren Unendlichkeit, seinen Stürmen, Küsten und Brandungswalzen in ein Wort zu verwandeln oder das Glück und die Trauer eines Menschen, die höchsten Gebirge, selbst Götter zu benennen und zur Sprache zu bringen. Erst durch die Sprache sind wir geworden, was wir sind, auch wenn der Unterschied zwischen der Wirklichkeit und ihrem sprachlichen Ausdruck nicht größer sein könnte – im Wort Ozean ist schließlich noch kein Schiff gesunken und vom Wort Eiswand noch keiner in die Tiefe gestürzt. Der Zauber der Verwandlung von etwas in Sprache läßt Bilder in uns entstehen, durch die wir die Welt eines anderen betreten oder ihn erzählend in unsere eigene holen und so nicht nur Ahnungslosigkeit und Schweigen, sondern auch die Einsamkeit und Verlassenheit des Einzelnen überwinden können. Und alles, was wir für dieses Wunder brauchen, ist eine Stimme und ein Ohr.