Interviews

»Ich stellte mir diese Welt ohne Tiere vor und wie es sich anfühlen würde, allein zurückzubleiben.«

Die Australierin Charlotte McConaghy hat ihrer deutschen Lektorin Teresa Pütz Rede und Antwort gestanden – zu ihrem international gefeierten Roman »Zugvögel«, unserer Verantwortung für den bedrohten Planeten und dass das Reisen zwischen zwei Buchdeckeln doch am schönsten ist.

114 McConaghy Interview
© © Emma Daniels

»Zugvögel« erzählt die Geschichte von Franny Stone, einer Ornithologin, die beschließt einer Schar Küstenseeschwalben auf ihrem Zug in die Antarktis zu folgen. Wie kam dir die Idee zu deinem Roman?

Mein Roman setzt sich aus unendlich vielen Ideen zusammen, die begannen, sich wie Mosaikstücke zu formieren. Mosaikstücke, die ich auf meinen vielen Reisen sammelte. Ich glaube, zum ersten Mal ergaben sie ein erkennbares Bild, als ich gerade auf Europareise war. Ich hatte beschlossen für ein Jahr nach Großbritannien zu ziehen und wollte zuvor durch Irland reisen. Ein Land, das ich wirklich liebe und mit dem ich mich besonders verbunden fühle. Es inspirierte mich zur Hintergrundgeschichte meiner Protagonistin Franny. Ich reiste auch nach Island und verliebte mich sofort in diesen Ort. Ich erinnere mich, wie ich damals diese wunderschönen Graugänse bemerkte. Ich fühlte mich sofort mit ihnen verbunden. Sie legen diese unglaublich langen Reisen zurück und ich empfand, dass ich dasselbe tat. Ich begann über Zugvögel nachzudenken und die Menschen, die sie beobachten. 

 

Das war der Moment, als Franny, die Ornithologin, geboren wurde.

Ich gab ihr auch etwas von mir mit. Als Kind bin ich viel umgezogen, mit meinem 21. Lebensjahr habe ich in 21 verschiedenen Häusern gelebt. Also kann ich ein bisschen darüber erzählen, was es bedeutet, nicht zu wissen, wo man hingehört. Franny ist von Natur aus eine Wanderin, immer in Bewegung, nicht imstande an einem Ort zu bleiben. Ich denke, tief in ihrem Innersten ist sie auf der Suche nach Familie und Zugehörigkeit. Aber diese Rastlosigkeit erschwert es ihr, Beziehungen aufrechtzuerhalten. Das letzte fehlende Mosaikstück zu meinem Roman fand ich, als ich lernte, dass wir Menschen allein in den letzten 50 Jahren über 60% aller wilden Tieren ausgerottet haben, und dieses Sterben geht rasant weiter. Das entsetzte mich, ich stellte mir diese Welt ohne Tiere vor und wie es sich anfühlen würde, allein zurückzubleiben. Nun, das ist die Welt, in der »Zugvögel« spielt.  

 

Wie wichtig sind dir persönlich Natur- und Klimaschutz, wie siehst du unsere Verantwortung für unseren Planeten im täglichen Leben? 

Umweltthemen sind mir enorm wichtig. Der Klimawandel und alles, was daran hängt, ist die Krise unserer Zeit. Davor können wir nicht einfach die Augen verschließen. Ich versuche meinen ökologischen Fußabdruck so klein wie möglich zu halten: ich ernähre mich fleischlos, nehme, wenn möglich, das Fahrrad anstelle des Autos, unser Haus nutzt erneuerbare Energien. Außerdem versuchen wir uns im Kompostieren und Recyceln. Das sind so einfache Dinge, die einen so großen Effekt haben. Ich halte die jungen Menschen, die Teil der Klimaschutzbewegungen sind, Fridays for Future und andere, für wahre Helden. Sie sind diejenigen, die die größten Schritte unternehmen, uns zu retten. Wir sollten uns an ihrem Engagement ein Beispiel nehmen. 

In meinem Roman »Zugvögel« spielt unsere Verantwortung für den Planeten eine tragende Rolle. Wir allein sind für seine Zerstörung zur Rechenschaft zu ziehen, daher ist es unsere Pflicht, ihn zu retten. Auch wenn viele anders denken, wir besitzen diese Welt nicht, wir sind nicht berechtigt sie auszubeuten; wenn überhaupt, sind wir bloß Wärter, Verwalter. Wir sollten dankbar sein, wir sollten entschlossen sein, die Erde mit den wilden Geschöpfen zu teilen, die zu der Biodiversität beitragen, die uns am Leben hält. Das Gute ist doch, dass wir die Macht dazu haben. Ich blicke der Zukunft hoffnungsvoll entgegen. Das wollte ich auch in meinem Roman vermitteln. Ich möchte Leser*innen Hoffnung, Mut und Trost mit auf den Weg geben, die Sicherheit, dass wir den Kampf noch nicht verloren haben, dass uns noch Zeit bleibt und dass jeder Einzelne von uns etwas dazu beitragen kann …muss. Dies ist die Reise, die meine Protagonistin Franny unternimmt – zuerst hat sie alle Hoffnung verloren, nur um sie am Ende trotz aller Widrigkeiten wiederzufinden.  

 

Warum hast du unter allen Zugvögeln die Küstenseeschwalben gewählt? Welche Bedeutung haben sie für dich und deinen Roman?

Die Küstenseeschwalben unternehmen von allen Tieren dieser Erde die längste Wanderung. Sie fliegen von der Arktis in die Antarktis – und wieder zurück. Und das jedes Jahr. So kommen sie zeitlebens auf eine Strecke, die dreimal der Distanz zum Mond und wieder zurück entspricht. Als ich davon erfuhr, beeindruckte mich das schwer. Ich konnte die Entfernung gar nicht glauben, es kam mir unglaublich mutig und tapfer vor, auch weil sie mit harten Umweltbedingungen zu kämpfen haben, der Klimawandel erschwert ihre Reise zusätzlich. Der Zug dieser Vogelart erschien mir die perfekte Metapher für die Reise, auf die ich Franny schicken wollte. Ein beschwerlicher Weg mit vielen Hindernissen, denen sie trotzt. Für mich symbolisieren die Vögel Mut.

 

Wie hast du für den Roman recherchiert? Mich interessiert brennend, ob du wie Franny auf einem Fischerboot zu all den aufregenden Orten gereist bist, die du in deinem Roman beschreibst. 

Ich habe wirklich sehr viel recherchiert, bevor ich zu schreiben begann. Wie ich bereits erzählte, bin ich nach Island gereist. Diese Insel hat mich inspiriert über ein eisiges Abenteuer zu schreiben. Ich bin durch Irland gereist, wo Franny für den Großteil des Buches lebt. Und ja, ich habe auch einige Zeit auf einem Boot verbracht. Einige Nächte erkundete ich so die Fjorde Neuseelands. Eine so lange und abenteuerliche Reise wie Franny habe ich jedoch nicht geschafft, ich bin nie nach Grönland oder in die Antarktis gelangt, denn ich muss ein Geständnis ablegen: Ich werde leicht seekrank. Leider. Stattdessen bin ich ausgiebig zwischen zwei Buchdeckeln gereist, habe sehr viel gelesen, mir auch Reportagen angeschaut. Welch ein Glück haben wir im Informationszeitalter zu leben, man kann zu den wunderschönsten und entlegensten Plätzen dieser Erde reisen, ohne überhaupt das Haus zu verlassen.

 

»Die weitesten Reisen unternimmt man mit dem Kopf.« – Joseph Conrad. Du hast es bereits angerissen, aber vielleicht magst du noch etwas mehr über deine irische Wurzeln erzählen und wie viel Charlotte tatsächlich in Franny steckt.

Wie gesagt, bin ich in meiner Kindheit viel umgezogen, meine Mutter war alleinerziehend. So habe ich mich immer gefragt, wo meine Wurzeln liegen. Ich reiste schlussendlich nach Europa, um mehr herauszufinden. Ich habe entfernte Familie in Irland. Aber auch Australien liegt mir sehr am Herzen. Mein Vater besitzt eine Farm an der Südküste, dort bin ich aufgewachsen. Die Landschaft dort unten ist wunderschön, sie inspirierte mich für Frannys Jugend auf der Farm ihrer Großmutter. So findet man einige Details von mir und meinem Leben in diesem Roman. Ich liebe die Natur, die Vögel, das Meer, aber hier hören meine Gemeinsamkeiten mit Franny wohl auch schon auf. Sie hat eine viel wildere Seele, ist viel mehr eine Wanderin, Getriebene. Ich glaube auch, dass sie viel mutiger ist als ich. Oft versuche ich mir an ihrem Mut ein Beispiel zu nehmen, frage mich in Situationen, was Franny wohl tun würde. Und natürlich bin ich niemals auf solch eine abenteuerlichen Reise wie sie gegangen. Aber das ist doch das Glück des Schreibens für mich, die Kraft der Fantasie ganze Welten und Figuren entstehen zu lassen und in ihren Geschichten abzutauchen. So erfahren wir Dinge, die wir in der Realität niemals tun würden. 

 

Wenn du gerade vom Glück des Schreibens sprichst, hast du literarische Vorbilder? Welche Autor*innen haben dich beeinflusst?

Oh, das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, ich habe keine konkreten literarischen Vorbilder. Doch alles, was ich lese, inspiriert mich in der einen oder anderen Weise. Zuletzt habe ich sehr gerne Richard Powers gelesen, »Die Wurzeln des Lebens«, seine Bücher veröffentlicht ihr, habe ich gesehen. Und Emily St. John Mandel, sie hat mir dieses wunderschöne Quote zu meinem Buch gegeben, auch Jeanette Winterson und Daisy Johnson mag ich sehr. Und besonders bewegt mich die naturliebende Lyrik von Mary Oliver. Ich weiß nicht, ob du sie kennst, aber sie ist mir wirklich sehr ans Herz gewachsen. 

 

Die Welt, die du in deinem Roman beschreibst, sieht unserer gegenwärtigen auf erschreckende Weise sehr ähnlich. Würdest du behaupten, »Zugvögel« ist das Buch für unsere Zeit?

Die Dinge, die in der Welt passieren, können sehr furchterregend auf uns wirken. Täglich sehen wir katastrophale Dinge in den Nachrichten. In Australien haben wir Anfang des Jahres erst verheerende Buschbrände erlebt, die Millionen von Tieren töteten und deren Lebensräume zerstörten. Und nun sind wir rund um den Globus mit einer nie dagewesen globalen Krise konfrontiert, die unsere Gesundheit, unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft betrifft. Es ist eine beängstigende Zeit. Eine Zeit, auf den Schaden zu blicken, den wir der Erde angetan haben. Vielleicht ist »Zugvögel« das Buch für unsere Zeit, weil es von der größten Bedrohung erzählt, mit der die Menschheit heutzutage konfrontiert ist: den Klimawandel. Es konfrontiert uns mit einer düsteren Zukunft – und eröffnet uns einen Weg daraus. Mir liegt das Didaktische fern, ich will niemanden erziehen, aber dieses Thema ist mir ein zutiefst persönliches Anliegen. Eine Warnung, ja, aber zugleich und vor allem doch ein Liebesbrief an all die wilden Geschöpfe und Orte dieser Erde, die bedroht sind.

 

Zum Abschluss: Was würdest du Leser*innen deines Romans gerne mit auf dem Weg geben?

Meine Hoffnung ist, dass Leser*innen ein Gespür für die Dringlichkeit der Themen bekommen, die ich in meinem Roman behandle. Das Wissen, dass wir von einer Welt, wie ich sie in »Zugvögel« beschreibe, nicht weit entfernt sind. Dass sie schon bald wahr werden könnte, wenn wir nicht jetzt handeln. Wenn wir uns nicht ändern. Jeder einzelne von uns. Ich möchte aber auch, dass Leser*innen Hoffnung daraus entnehmen. Mut finden. Den Mut, den Lauf der Dinge aufzuhalten. Wir können die Tiere, den Planeten und uns selbst retten, wir müssen nur mutig genug sein.

 

Das Interview führte und übersetzte Teresa Pütz

Charlotte McConaghy, Jahrgang 1988, hat irisch-schottische Wurzeln und wuchs in Australien auf. Ihre Passion für die Natur und Tierwelt und ihre Erschütterung über die Auswirkungen des Klimawandels inspirierten sie zu »Zugvögel«, ihrem literarischen Debütroman, mit dem sie den internationalen Durchbruch erreichte. Sie hat einen Abschluss als Drehbuchautorin der Australian Film ...

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