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Mehr als Shiwago

Vor sechzig Jahren starb Boris Pasternak. Bekannt ist er heute vor allem für seinen großen Roman »Doktor Shiwago«. Dabei gibt es in seinem Werk so viel mehr zu entdecken.

Boris Pasternak gehört unbestritten zu den wichtigsten russischen Autor*innen des 20. Jahrhunderts. Er wird 1890 in Moskau geboren und bereits in seiner Kindheit spielen Kunst, Musik und Literatur eine große Rolle. Bei einer Familienreise nach Odessa begegnet der zehnjährige Pasternak an einem Bahnhof Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé, die auf dem Weg zu Tolstoi sind. Nach Rilkes Tod 1926 entsteht einer der wichtigsten Prosatexte Pasternaks, ein langer Brief an den bewunderten Dichter. 
Anfangs will Pasternak sein Leben der Musik widmen, entscheidet sich aber bald für die Literatur, genauer für die Lyrik. Die ersten Gedichte veröffentlicht er im Jahr 1913 und in den folgenden Jahren erscheinen mehrere bedeutende Gedichtzyklen. Pasternaks Stil ist vom Symbolismus und Futurismus geprägt. Der symbolistische Dichter Alexander Blok beeinflusste ihn stark. Die Themen von Pasternaks Lyrik sind vielfältig: Philosophisches, Reflexionen über Literatur und Musik und vor allem die Natur stehen im Zentrum.

Nach der Oktoberrevolution von 1917 geht ein großer Teil von Pasternaks Familie ins Ausland, doch er entschließt sich, in Russland zu bleiben. In den folgenden Jahren ist es aber nicht leicht für den Dichter, da sein Stil nicht zum sowjetischen Ideal der sozialrealistischen Literatur passt. Pasternak äußert sich aber selten politisch und wird, anders als viele andere bedeutende Schriftsteller*innen der Sowjetunion, nie verhaftet. Legendär ist sein Telefongespräch mit Stalin nach der Verhaftung von Ossip Mandelstam im Jahr 1934. Stalin soll Pasternak nach seinem Verhältnis zu Mandelstam gefragt haben, worauf er aber nur ausweichend antwortete und seinen Kollegen nicht verteidigte. Stattdessen soll er Stalin vorgeschlagen haben, ein philosophisches Gespräch über Leben und Tod zu führen, woraufhin Stalin auflegte.

1958, zwei Jahre vor seinem Tod, wird Pasternak der Nobelpreis für Literatur verliehen. Doch daraufhin übt die sowjetische Führung viel Druck auf Pasternak aus, was schließlich dazu führt, dass er den Preis nicht annimmt. In seinem Gedicht »Der Nobelpreis« von 1959 äußert Pasternak sich enttäuscht, aber auch voller Hoffnung auf eine freiere Zukunft:

Was beging ich an Gemeinem,
Ein Verbrechen, einen Mord?
Über Russlands Schönheit weinen
Ließ ich alle durch mein Wort. 

 

Jetzt, beinah im Grabe liegend,
Glaub ich an die neue Zeit:
Über finstre Mächte siegen
Wird der Geist der Menschlichkeit.

Es war gerade das Werk, das Boris Pasternak international bekannt machte, was der sowjetischen Führung besonders missfiel: »Doktor Shiwago«, Pasternaks einziger Roman. Dieses große Epos über die Geschichte Russlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte er 1956 fertiggestellt, doch in der Sowjetunion konnte es erst Ende der achtziger Jahre im Zuge der Perestroika erscheinen. Im Oktober 1958 erschien die deutsche Ausgabe des Romans bei S. Fischer und bescherte dem Verlag den größten wirtschaftlichen Erfolg seit der Neugründung nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. Die Verfilmung des Romans durch David Lean brachte in den sechziger Jahren noch mehr Aufmerksamkeit für die Geschichte des Dichters und Arztes Juri Shiwago – allerdings mit Fokus auf die Liebesgeschichte, die nur einen Teil des Romans ausmacht. 

So sehr es sich lohnt, »Doktor Shiwago« zu lesen oder wiederzulesen, so sehr lohnt es sich auch, sich mit dem lyrischen Werk Pasternaks und seinen Erzählungen auseinanderzusetzen. Ist die Erzählweise von »Doktor Shiwago« eher traditionell und einfach, zeigt sich in seinen früheren Texten eine faszinierende und – im positiven Sinne – irritierende Poesie. Die Erzählung »Luftwege« aus dem Jahr 1924 ist ein gutes Beispiel für diesen besonderen Stil. In ihr wird die Natur lebendig und Pasternaks großes Können deutlich sichtbar. 

Unter dem uralten Maulbeerbaum, an den Stamm gelehnt, schläft die Kinderfrau. Als die gewaltige lilafarbene Regenwolke, die hinter der Bahn aufsteigt, selbst die im Gras hitzetoll zirpenden Grillen zum Schweigen bringt, als in den Lagern die Trommeln noch einmal aufseufzen und dann ausschwingen, da wird es der Erde schwarz vor den Augen, da bleibt auf der Welt das Leben stehen.

»Hej, hej!«, gellt es von den rissigen Lippen des halbirren Hirtenmädchens; mit ihrer Gerte fuchtelnd, als schleuderte sie Blitze, das eine Bein nachschleppend, das vom Hocken verkrampft ist, mit dem jungen Bullen Schritt haltend, der voranläuft, taucht sie aus einer Wolke von Dreck jenseits des Gartens, dort, wo das Ödland beginnt mit Nachtschatten, Ziegelschutt, verfilzten Drahtstücken und modrigem Halbdunkel.

Und auch sie verschwindet.

Die Regenwolke umfasst mit dem Blick die flachen dürrekrustigen Stoppelfelder. Die strecken sich bis zum Horizont. Die Wolke stellt sich spähend auf die Hinterpfoten – die Äcker reichen noch weiter, bis hinter die Lager. Die Wolke lässt sich auf die Vorderpfoten herab, bewegt sich schwebend über die Bahnlinie und setzt ihren Weg lautlos fort, der vierten Schiene der Ausweichstelle folgend. Die Sträucher, den ganzen Bahndamm entlang, entblößen die Häupter und neigen sich ihr nach. Dahinfließend, entbieten sie ihren Gruß, den sie nicht erwidert.

Vom Baum fallen Beeren und Raupen. Sie lösen sich los, verpestet von der Hitze, und da sie in die Schürze der Kinderfrau sich eingebissen haben, hören sie auf, an etwas zu denken.

Das Kind kriecht zum Wasserhahn. Es kriecht schon lange.

Weiterlesen kann man hier: Luftwege. Übersetzt von Werner Creutziger. In: Boris Pasternak: Zweite Geburt. Werkausgabe Band 2. Gedichte, Erzählungen, Briefe. Herausgegeben von Christine Fischer. Erschienen bei FISCHER Taschenbuch 2016.

 

»Luftwege« erschien in der vorliegenden Übersetzung zunächst in: Boris Pasternak: Prosa und Essays. Herausgegeben von Margit Bräuer. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1991. © Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1991.

Boris Pasternak, 60. Todestag,

Norma Schneider
Norma Schneider ist freie Mitarbeiterin im Lektorat für deutschsprachige Literatur bei S. Fischer.