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Lamm

Von klackernden Schuhen, hellem Blöken und Abstand einhalten. Eine Kolumne von unserer Autorin Lize Spit. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.

Lize Spit, Kolumne, Lamm,
© STEFAAN TEMMERMAN/LUMEN

Anruf von meiner Schwester. Sie macht gerade einen Spaziergang im Kempenland. Ihre Absätze klackern munter über den Asphalt. Als Herausgeberin von Schulbüchern kann sie zu Hause arbeiten, lieber jedoch wäre sie in ihrem Büro, da hat sie Kollegen und einen ergonomischen Schreibtischstuhl. Es würde mich nicht wundern, wenn sie daheim schicke Schuhe tragen würde, damit sie sie nach acht Stunden verdientermaßen gegen bequeme Schlappen tauschen kann.

Ich bin auch gerade im Begriff, kurz mal rauszugehen, in der einen Hand mein Telefon, in der anderen ein mit Flüssigseife getränktes Stück Küchenpapier. In meinem Haus wohnen mehr als dreißig Leute, dieses Seifentüchlein brauche ich in Ermangelung von Handgel, nachdem ich die Lichtschalter im Treppenhaus und die Türklinken angefasst habe. Auf der Straße suche ich einen Müllsack, um das glitterübersäte Tuch wegzuwerfen. So stelle ich mir dieses Virus vor, wie giftigen Glitter. Das kommt durch den Film, in dem eine Lehrerin in eine Glitterwolke hustete, um ihren Schülern zu demonstrieren, wie ein Virus sich verbreitet. Überall sehe ich es glitzern, sogar auf der Post in unserem Briefkasten, es erfordert schon einiges, um nichts davon an die Finger zu kriegen.

Meine Schwester ist nicht ständig mit feuchten Tüchern zugange. Sie teilt ihre Haustür einzig und allein mit ihrem Liebsten, tritt direkt in ihren Garten, der an Büsche und Felder grenzt. Durch das Telefon kann ich die Weite ihrer Umgebung hören. Dort ist nichts außer ihrer Stimme und dem Klackern ihrer Absätze. Das weckt Sehnsucht in mir nach diesem Fleck.

»Wie geht es euch?«, fragt sie.

Hier in Brüssel kann man nicht mal eine halbe Stunde spazieren gehen, ohne hundert anderen Menschen zu begegnen. Meine Wohnung hat weder einen Garten noch einen Balkon. Diese Woche gingen R. und ich zweimal an die frische Luft, wobei wir uns in dem Versuch, genügend Abstand zu anderen zu halten, im Slalom zwischen den Leuten im Vorster Park hindurchbewegten. Die Nachricht, die Grasflächen im Park dürften nicht mehr betreten werden, weil sonst zu viele Menschen auf einem Haufen beisammen sind, beunruhigte mich: Zum Schluss bleiben nur noch die schmalen Wege übrig, und selbst im Slalom kommt man dann nicht durch. Wir gehen nicht nur spazieren, um ein bisschen Bewegung zu haben, sondern auch um die Wohnung für kurze Zeit zu vergessen, damit wir danach dort wieder zu Hause sein können.

Aus dem Telefon dringt helles Blöken, ein Schaf hat an meiner Stelle auf die Frage geantwortet. »Oh«, sagt meine Schwester, »hier steht ein Lamm auf der Wiese. Ich schau mal eben, ob es mit Facetime klappt, dann zeig ich es dir.«

Ich schalte meine Kamera schon mal an in Erwartung einer Verbindung, und erschrecke beim Anblick meines eigenen Kopfs, der pompös auf dem Display erscheint.

»Shit«, ertönt es aus meinem Lautsprecher, »ich bekomme kein Bild, wart mal.«

Pausbacken, Augenringe, die Kamera meines Telefons zeigt mich genauso unvorteilhaft wie die Spiegelung in einem Zugfenster.

So geht es mir: Ich bin es leid, diese Lize zu sein.

Normalerweise sieht man in einer Woche verschiedene Leute, in unterschiedlichen Eigenschaften, und jedes Mal ist man ein klein bisschen anders, eine Variation seiner selbst. Wer zusammen mit lediglich einem anderen Menschen eingesperrt ist, kann nur diese eine Version sein. Das ist mit der Zeit lähmend.

Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen

Lize Spit wurde 1988 geboren, wuchs in einem kleinen Dorf in Flandern auf und lebt heute in Brüssel. Sie schreibt Romane, Drehbücher und Kurzgeschichten. Ihr erster Roman »Und es schmilzt« stand nach Erscheinen ein Jahr lang auf Platz 1 der belgischen Bestsellerliste, gewann zahlreiche Literaturpreise und wurde in 15 Sprachen ...

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